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Geschichten vom Rand des Lebens: Das unbezwingbare Tor

Geschichten vom Rand des Lebens – Kurioses, Interessantes und Anrührendes aus der Palliativversorgung

Eine neue Kurzgeschichte aus der Palliativversorgung. Eine Hörfassung gibt es hier: https://tinyurl.com/geschichten-tor.

„Das passiert uns vielleicht zweimal im Jahr.“

4:00 Uhr nachts, die Tür hält stand. Die Feuerwehr ist frustriert.

Um 2:00 Uhr habe ich einen Anruf erhalten. Herr Jannsen hat Ängste, ist alleinstehend. Die Kinder sind längst aus dem Haus, die Frau vor Jahren gestorben. Den Lungenkrebs hat er durch die Arbeit im Hafen bekommen. Schiffe lackieren, jahrzehntelang. Dann plötzlich Bluthusten. Krampfanfall auf dem Baugerüst. Krebs in der Lunge, der schon ins Gehirn gestreut hat. Schlechte Prognose, wahrscheinlich bleiben nur wenige Monate.

Angst ist oft einer der Wegbegleiter am Lebensende, Depression ein anderer. Angst kann viele Gründe haben: Angst vor dem Wiederauftreten der belastenden Symptome, einem erneuten Krampfanfall, dem Bluthusten, der Zunahme der Luftnot. Aber auch Angst davor, im Sterben allein zu sein, ohne Gespräche, ohne Trost. Angst, nicht mehr aus dem Bett zu kommen, Hunger und Durst nicht mehr selbst stillen zu können.

Oder die Angst überfallen zu werden: Herr Jannsen hat seine Wohnung zu einer Festung ausgebaut. Mehrere Sicherheitsschlösser, zwei vermauerte Riegel, der Rahmen selbst: auch eingemauert. Wenigstens dieser Angst konnte er durch Geld begegnen.

Der Grund für den nächtlichen Anruf war jedoch nicht ein Überfall, sondern die Angst an sich. Ohne Anlass, ohne körperlichen Auslöser. Ein unbestimmtes Gefühl, Unruhe, fast Panik. „Wie komme ich dem bei?“, muss sich Herr Jannsen gedacht haben. Eine sichere Tür lässt sich kaufen, selbst eine Betreuungskraft lässt sich organisieren. Unser Team kommt auch im Falle eines Falles. Aber all das kann nur Symptome lindern. Angst für eine gewisse Zeit einfach ausschalten ist möglich. Aber dann?

„Nehmen Sie bitte eine Tavor ein!“, empfehle ich.

„Kommen sie dann trotzdem vorbei?“

„Natürlich, Herr Jannsen!“

Er nimmt eine Tablette Tavor, also angstlinderndes Lorazepam, ein und ich mache mich auf den Weg. Der Weg dauert trotz der nachtschlafenen Zeit etwas länger, ich habe ja schließlich kein Blaulicht. Dafür leuchtet kurz nach meinem Eintreffen umso mehr blaues Licht in der Straße.

Ich kann Herrn Jannsen nicht erreichen. Nicht durch Klingel oder Klopfen, nicht durch Anrufe auf allen mir bekannten Telefonnummern. Was, wenn das nun doch ein Vorbote eines Krampfanfalls war? Was, wenn die Panik zur Luftnot geführt hat? Was könnte noch passiert sein? Ich spiele alle Szenarien im Kopf durch. Ich muss da jetzt rein.

Über den Notruf hole ich Polizei und Feuerwehr. Und das Spektakel beginnt. Fragen über mich, Fragen über Herrn Jannsen.

„Warum haben sie keinen Schlüssel?“

„Weil Herr Jannsen das nicht wollte.“

„Aber sie sind doch vom Pflegedienst?“

„Nein, wir erbringen hier nur die zusätzliche palliative Behandlungspflege.“

„Was ist denn palliativ?“

„Das bedeutet, dass wir die Beschwerden durch seine tödliche Erkrankung lindern.“

„Oh. Er ist todkrank? Wie können Sie ihn dann hier allein lassen?“

„Es war seine freie Entscheidung. Er ist ja nicht unzurechnungsfähig.“

„Und was ist, wenn er stirbt?“

„Wie er sterben möchte ist auch seine freie Entscheidung. Wenn er in seiner Wohnung bleiben möchte, akzeptieren wir das natürlich. Auch wenn wir es bei seinen Beschwerden nicht gutheißen und er im Sterben liegt.“

„Aber dann müssen sie ihn doch einweisen!“

„Nein, das wäre Freiheitseinzug. Jeder hat das Recht zu leben und sterben, wie er es möchte. Und wenn er verstirbt, kommen sie ins Spiel.“

3:00 Uhr versucht die Feuerwehr die Tür zu öffnen. Fluchend und mit immer wieder neuem Gerät. Um 6:00 Uhr gibt die Tür auf. Der Türrahmen ist mittlerweile aus der Wand gestemmt.

Herr Jannsen ist zwischenzeitlich auf dem Balkon erschienen. Schlaftrunken von dem Medikament, das bei ihm auch wunderbar als Schlafmittel gewirkt hat. Irgendwann hat ihn der Lärm vor und im Haus dann geweckt. Auf jeden Fall nimmt ihm Tavor die Angst und lässt ihn entspannen. Das weiß ich jetzt.

Als am Morgen Feuerwehr und Polizei abziehen, steht die Tür mit Rahmen neben dem grossen Loch im Flur. Ich empfehle ihm, noch heute auf die Palliativstation in der Klinik zu gehen, damit ein Hospizplatz organisiert werden kann. Angstattacken können gut mit Medikamenten abgefedert werden. Mehr aber auch nicht. Dafür bedarf es einer sicheren Umgebung mit Menschen, die Tag und Nacht für ihn da sind. Ein Hospiz ist dafür der beste Ort.

Als ich mich verabschiede, kann sich Herr Jannsen einen letzten Kommentar nicht verkneifen:

„Haben sie sich die Schuhe wenigstens abgetreten?“

Am Lebensende ist es am schwersten, die gewohnte Umgebung hinter sich zu lassen.

*Namen sind geändert

Artikel: Sicherheit planen: Palliatives Notfallmanagement (pflegen:palliativ 35/2017)

Sicherheit planen: Palliatives Notfallmanagement (Nils Wommelsdorf, Auszug aus: pflegen:palliativ 35/2017 Notfälle, Fischer Verlag)
Sicherheit planen: Palliatives Notfallmanagement (Nils Wommelsdorf, Auszug aus: pflegen:palliativ 35/2017 Notfälle, Fischer Verlag)

Zur Ausgabe 35/2017 der Fachzeitschrift “pflegen:palliativ” (Fischer Verlag) habe ich den Artikel “Sicherheit planen: Palliatives Notfallmanagement” über die Notwendigkeit einer Notfallroutine in der Palliativversorgung beigesteuert.
Im Text werden die Basics eines funktionierenden Notfallmanagements mit Bezug auf die Besonderheiten der Palliativversorgung dargestellt – eben keine kurative Rettungskette, sondern eine Variante, die der palliativen Versorgung am Lebensende Rechnung trägt:

    Stressfaktoren mit Folgen
    Erfolg oder Misserfolg der Notfallmaßnahmen in der Palliativversorgung bestimmen auch die Symptomlast von Sterbenden und die Belastungen ihrer Zugehörigen; sie ermöglichen oder verhindern somit die Möglichkeit des Sterbenden und seines Umfeldes, voneinander Abschied zu nehmen.
    Für das Pflege- und Behandlungsteam ergibt sich die schwere Last der Entscheidung aus den grundverschiedenen, folgenschweren Behandlungsoptionen – beispielsweise das Abwägen zwischen Intubation oder palliativer Sedierung. Durch diese Entscheidungssituationen, mit hohen Anforderungen an Handlungssicherheit und Fachlichkeit, entsteht Stress, der unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. So kann ein „… plötzlicher oder qualvoller Tod eines Patienten/einer Patientin, extrem entstellende Verletzungen, Tod während einer Pflegehandlung […] bereits […] sehr belastend und potentiell traumatisch sein” (Hausmann, 2011: 2). Im schlimmsten Fall können kritische Ereignisse sogar zu behandlungsbedürftigen, psychischen Störungen führen (vgl. Teegen, 2003).”

Das Heft kann hier gekauft werden:
https://www.friedrich-verlag.de/shop/notfalle
oder über die ISSN 1867 – 9390 im Fachhandel bestellt werden.
Eine Übersicht meiner bisherigen Autorentätigkeit findet sich hier:
nilswommelsdorf.de/veroeffentlichungen


Mein Flickr-Album zum Thema: https://www.flickr.com/photos/nilswommelsdorf/albums/72157687719172375